Auszug aus dem Buch “Flaschenpost an die Zukunft, Kadmos 2013, S. 57-61 — get pdf
Till Nikolaus von Heiseler: Ich habe mal ein Seminar gegeben, in Zürich an der Kunsthochschule – oder Kunst-Universität wie das heute heißt –, und da sollte ich fünf Tage lang etwas über Medientheorie und Epistemologie erzählen, jeden Tag sechs Stunden und ich habe mich vor das Seminar gestellt … und habe gesagt: Ich mache jetzt keine Begriffsgeschichte und fange nicht mit der aisthesis-Konzeption von Aristoteles an, sondern ich beschreibe einfach mal den Diskurs, so wie er im Augenblick stattfindet. Um nun weder allgemeine Philosophie noch Sozialwissenschaft zu machen noch diese nebulösen Kulturwissenschaften zu treiben, sondern wirklich Medientheorie zu denken, müssen wir nur Theorien behandeln, die eine deutliche Distanz zum Alltagsbewusstsein aufweisen, denn das, was man sowieso meint, brauchen wir nicht mit Fremdworten und Gesellschaftskritik zu garnieren, weil das einfach nichts bringt. Damit kann weder ich was anfangen noch Sie, und deshalb denke ich: Es gibt nur zwei theoretische Ansätze, die es überhaupt zu behandeln lohnt, und das sind die Theorien von Niklas Luhmann und Friedrich Kittler.
Friedrich Kittler: lacht.
Till Nikolaus von Heiseler: Punkt. Und das sind zwei Theorien, die sind so etwas von unterschiedlich, dass wir vielleicht auch gleich damit die Epistemologie behandeln können, die hier ja auch irgendwie das Thema sein soll – Medientheorie und Epistemologie hieß das Seminar –, und zwar in ganz praktischer Weise: indem wir in die eine Theorie einsteigen, die Welt betrachten, dann wieder aussteigen und in die andere Theorie einsteigen.
Friedrich Kittler_ lacht.
Till Nikolaus von Heiseler Wir versuchen also keine Super-Theorie oder so etwas Komisches zu entwickeln, sondern wir stellen diese beiden Perspektiven einfach mal nebeneinander und versuchen, sie jeweils für sich und aus sich heraus zu nehmen und zu verstehen. Was aber ist nun Epistemologie? Beide Theorien haben unterschiedliche Ausgangspunkte, und das, was später in den Theorien als Aussagen formuliert wird, hängt von diesen Ausgangspunkten ab. Doch täuscht man sich auch wieder, wenn man annimmt, dass beide Theoriegebäude gar nichts miteinander zu tun haben, denn es gibt auch eine Klammer, und diese Klammer ist Foucault.
Friedrich Kittler: Wunderbar!
Till Nikolaus von Heiseler: Dieser Foucault, Michel Foucault, sage ich und schreibe den Namen an die Tafel, die ich mir extra für diesen Zweck organisiert habe – es ist ja kaum mehr möglich, heute noch eine Tafel in einen Seminarraum zu bekommen –, hat einen für uns wichtigen Begriff entwickelt, und zwar das historische Apriori. Das sind die historischen Bedingungen, die uns das Formulieren von Aussagen ermöglichen, die wir für wahr halten, die Realbedingungen der Aussagen. Und dann das berühmte Zitat aus der Archäologie des Wissens. Das kann ich jetzt leider nicht ordentlich zitieren. Also es geht nicht um Gültigkeitsbedingung für Urteile, sondern darum zu untersuchen, wie Aussagen fortbestehen, koexistieren, sich transformieren und verschwinden. So ähnlich. Aber genau mit dieser Formulierung bleibt ja weitgehend offen, was das historische Apriori im Einzelnen meint. Es ist gerade die Stärke Foucaults, hier eine Leerstelle zu lassen, und er hat damit die Möglichkeit geschaffen, diese Leerstelle zu füllen. Und nun wird diese Leerstelle mit dem Begriff des Mediums gefüllt, der eben die Realbedingungen von Aussagen bezeichnen soll, aber immer noch ein weitgehend offener Begriff ist, und es entsteht eine neue Epistemologie, die sich deutlich von der klassischen Erkenntnistheorie unterscheidet. Zwar ist Sprachfähigkeit, wie Chomsky zeigt, universell und damit genetisch begründet, also phylogenetisch, aber die Frage, was Wahrheit ist, also das reflexive Wissen, ist immer historisch und abhängig von Institutionen, kulturellem Erbe und Kulturtechniken: den Realbedingungen des Diskurses. Und diese Leerstelle, das historische Apriori, wird bei Luhmann im Sinne der Selbstreferentialität des Sinnes mit den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gefüllt, gewissermaßen in hegelianischer Tradition: Geist, der durch seine Selbstreferentialität eine neue Qualität gewinnt, aber eben als konkreter sozial vorhandener Diskurs – Dialektik oder Autopoiesis. Und Sie interpretieren das historische Apriori im Sinne von Kulturtechniken, aber – wie es hinten in den Aufschreibesystemen steht – auch als Institutionen, die ja mit diesen Kulturtechniken, wenn sie in die Welt kommen sollen, wenn sie in die Geschichte kommen sollen, immer verbunden sind. Das war jetzt ein rechtes Gestotter. Aber würden Sie mit dieser Einordnung leben können?
Friedrich Kittler: Ja! Wunderbar könnte ich damit leben. lacht glücklich Er hat mich ja auch sehr gemocht, Luhmann – eben weil ich nicht sein Schüler war. Wir haben zusammen ein Seminar gemacht – und er hat lachend gesagt: Ja, ich weiß, wir sind ganz unterschiedlich, Herr Kittler. Ein reitender Bote kommt nach Babylon und ich frage: Was steht im Brief? Und Sie schauen sich das Pferd an – und dabei hat er lachen müssen. Da habe ich ihm einen schönen Gegenentwurf gemacht: Wissen Sie, Herr Luhmann, erst einmal muss der Computer erfunden werden, dann braucht der Computer eine Theorie, dann wird die Theorie von Rückkopplungsschleifen als Theorie von Computer-Selbstläufigkeit aufgestellt, dann beschließt das Pentagon, dass Norbert Wiener der Unzuverlässigste in dieser ganzen Informatik ist und schließt ihn von der Hardware-Weiterentwicklung aus, während John von Neumann bis zum Tag seines Hirnkrebs-Todes voll in der Materie drin stand, mathematisch; und Wiener verlassen die mathematischen Fähigkeiten und die informatischen, und prompt entdeckt er das Hobby der Biologie und der Soziologie. Und dann kommen Bateson und Maturana und schließlich Sie, Herr Luhmann, und setzen das alles zusammen – Sie reiten sozusagen auf unendlichen Sedimentierungsschichten von Hard- und Software – und am Ende holen Sie dann wieder das Grundprinzip der Rückkopplung in die Philosophie zurück. Und Sie führen die ganze Informatik und die Computertheorie, Computer Science, teilweise auch über die Biologie wieder zurück in Prima Philosophia. Das war ihm ziemlich recht als Kompliment, denn er wollte ja der Hegel unserer Tage sein. Aber ich denke, Sie haben in dem Punkt recht: Man kann nicht gleichzeitig von beidem reden, von Systemtheorie und von Mediengeschichte – das ist wahrscheinlich die methodische Konsequenz aus dieser Zwickmühle, wenn wir das mal bei einem Kindernamen nennen dürfen. Man kann entweder von den Medien
reden oder vom Sinn – gemeint ist dasselbe, also das, was eben – wohlgemerkt – Foucault in schroffer, absichtlicher
Paradoxie, historisches Apriori genannt hat, denn Aprioris waren ja bei Kant unwandelbare Gegebenheiten für alle Menschen, seit der Mensch der Mensch ist. Aber seitdem z. B. Helmholtz gezeigt hat, dass wir uns auch in die nicht-euklidische Geometrie hineindenken können und andere Räume als den euklidischen oder newtonianischen Raum konzipieren und rechnen können, seitdem sind Aprioris historisch geworden, nicht per Dekret de Mufti, ich meine jetzt Michel Foucault, sondern einfach durch die Zäsuren der Wissenschaftsgeschichte. Wer hat das schöner geschrieben als Martin Heidegger mit den Epochen des Seins, das sich eben »je« und »jäh« anders schickt. Es gibt keinen Hegel’schen Kreislauf bis zur Vollendung im absoluten Geist mehr, sondern wir wissen nicht, was in der Zukunft uns bevorsteht. Dieselben Götter? Neue? – um das Foucault-Zitat aus Les mots et les choses noch einmal aufzunehmen. Für diese Offenheiten muss eigentlich das Denken einstehen, das hat ja auch Luhmann ständig der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas mit Recht vorgehalten: Dass er sich taub macht gegen die Möglichkeiten der Zukunft und die offenen Anschlussmöglichkeiten, die es noch gibt. Um ganz ehrlich zu sein, muss man natürlich auch noch hinzufügen: Meine Generation war Niklas Luhmann – in diesem entsetzlichen Band aus der roten Suhrkamp- Reihe – vor allem für den genialen Satz dankbar, dass es jedem Menschen freisteht, etwas, was durch sein Bewusstsein fährt, entweder als Handeln oder als Erleben zu begreifen. Die einen haben den Trip als Handlung begriffen – ich meine den Haschisch-Trip – und die anderen als Erlebnis – am besten muss man beide Seiten sehen. Und ich habe mich immer für die Handlungs-Perspektive entschieden und Luhmann für die Sinn-Perspektive.
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