Was ist Sprache?

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Wie Sprache funktioniert, lässt sich anhand von improvisierter Gebärdensprache zeigen. Improvisierte Gebärdensprache benutzt keine Konventionen und besitzt dennoch Syntax. Ein Beispiel: Jack sieht Jill zum ersten Mal. Er geht auf sie zu, bleibt vor ihr stehen und macht drei Gebärden:

  1. Jack zeigt abwechselnd auf sich und auf Jill
  2. Jack formt seine rechte Hand so, als wenn er eine Tasse halten würde, und führt sie zum Mund
  3. Jack zeigt auf ein Café, das sich in Sichtweite befindet

Jill versteht dies als Frage: „Willst du mit mir im Café da drüben einen Kaffee trinken?“ Wie kommt diese Bedeutung (die kein nichtmenschliches Lebewesen verstehen kann) zustande? Wir müssen hier zwischen Struktur (Syntax) und praktischer Bedeutung (Pragmatik) der Äußerung unterschieden. Auf der Ebene der Syntax wird ein Satz gebildet und auf der Ebene der Pragmatik wird dieser Satz im Kontext interpretiert. Wir interessieren uns hier vor allem für die syntaktische Fähigkeit des Menschen. Diese besteht darin, die drei Gebärden in einer Weise zu verbinden, dass ein vollständiger Satz entsteht. Die erste Gebärde (abwechselndes Zeigen auf ihn und Jill) interpretieren wir als ‚Wir‘. Die zweite Gebärde (die Nachahmung des Kaffeetrinkens) interpretieren wir als das Verb ‚[Kaffee] trinken‘. Und die dritte Gebärde (das Zeigen auf ein Café) als [dies] ‚Café‘. Der vollständige Satz lautet also: ‚Wir | trinken Kaffee | da drüben im Café‘ – Diese Aussage stellt eine nicht präsente Handlung dar. Auf der Ebene der Pragmatik versteht jeder, dass dieser Satz in der gegebenen Situation als eine Frage zu interpretieren ist, etwa: „Magst du mit mir da drüben im Café einen Kaffee trinken?“ Doch was uns hier eigentlich interessiert, ist etwas anderes: Wir wollen wissen, wie es möglich ist, aus den drei Gebärden einen grammatikalischen Satz zu formen. Ein grammatikalischer Satz besteht aus einem Verb und aus Ergänzungen, den sogenannten Argumenten. Wie viele Argumente ein Verb braucht, damit ein vollständiger Satz entsteht, hängt vom Verb ab. Das Verb ‚gehen‘ ist beispielsweise zweiwertig. „Ich gehe“ ist unvollständig. Man möchte wissen, wohin. „Ich gehe nach draußen.“ ist demnach ein wohlgeformter Satz. Schlafen ist einwertig. Geben ist dreiwertig: das Verb ‚geben‘ bedarf dreier Argumente, um vollständig zu werden: Eines Gebers, eines Empfängers und einer Gabe. „Noam gibt Steven ein Buch.“

Zurück zu unserem Beispiel: Wenn Jill die Gebärde für ‚Wir‘ sieht (abwechselndes Zeigen auf die beiden), dann nimmt sie an, dass ‚Wir‘ das Satzsubjekt ist. Sie sucht deshalb ein Verb, das sie mit diesem Satzsubjekt (Agens) verbinden kann. Sie findet das Verb ‚trinken‘ (mimetische Gebärde des Trinkens). Nun möchte sie wissen, wo und wann? Die Zeigegebärde gibt die Antwort auf den Ort und aus der Situation ergibt sich die Zeit: jetzt. Während Tiere auf jedes Signal einzeln reagieren, warten wir mit unserer Reaktion so lange, bis wir eine vollständige Aussage verstanden haben.

Das Interessante an Sprache ist, wie das Agens (der Handelnde, in Akkusativsprachen das Satzsubjekt) mit dem Verb verbunden wird. Die Gebärde des Kaffeetrinkens führt Jack durch. Doch ohne Anstrengung wird Jack durch das neue Agens „Wir“ ersetzt. Dies zeigt die besondere Fähigkeit des Menschen, Sprache zu verstehen. Diese Fähigkeit besteht darin, alle verfügbaren Elemente zu verwenden um einen Satz zu bilden und weitere fehlende Elemente zu suchen.(1)

Deshalb wäre es auch falsch zu sagen, dass ein Hund Sprache versteht, wenn er sich auf das Kommando „Sitz!“ hinsetzt. Denn um Sprache zu verstehen, müsste er verstehen, dass das Verb setzen‘ mit unterschiedlichen Agenzien kombiniert werden kann. Natürlich gibt es sehr viel komplexere syntaktische Strukturen; doch alle bauen auf dieser einfachen Struktur auf:

n-wertiges Verb + n Argumente

Diese Struktur erweckt den Eindruck, dass ein Satz dadurch gebildet wird, dass einzelne Elemente (Verb, Argumente) zusammengesetzt werden. Doch ist das wirklich richtig? Jack sieht Jill und hat den Gedanken, mit ihr einen Kaffee zu trinken. Wenn wir dies in einem Cartoon zeichnen würden, dann würden wir Jack zeichnen, wie er Jill sieht und in seiner Gedankenblase würden beide einen Kaffee trinken. Diesen Gedanken teilt Jack Jill mit. Doch zuvor muss Jack den Gedanken haben, Jill zu fragen, ob sie mit ihm einen Kaffee trinken gehen will. Und hier zeigt sich eine weitere Besonderheit der Sprache: Wenn Jack denkt, er möchte Jill fragen, ob sie mit ihm einen Kaffee trinken will, hat er zwei Szenen im Kopf: Die eine betrifft die unmittelbare Zukunft (das Fragen), in der wiederum eine weitere mögliche Zukunft thematisiert wird. Die Kaffee-trink-Szene ist in die Frage-Szene eingebettet. Wenn wir in einem Cartoon zeigen wollen, dass Jack denkt, er möchte Jill fragen, ob sie mit ihm einen Kaffee trinken möchte, müssten wir zunächst eine Gedankenblase zeichnen, in der Jack Jill eine Frage stellt. Der Jack in der Gedankenblase hat wiederum eine Gedankenblase, in der er und Jill einen Kaffee trinken. Diese Struktur wird in der Linguistik Rekursivität genannt. Fast alle Elemente der beiden Szenen können wiederum ergänzt werden. „Jack fragt Jill, die er gestern schon am Pool gesehen hat, ob sie mit ihm einen Kaffee, der in Brasilien angebaut wurde, trinken geht.“ Wir haben keine Schwierigkeiten, diesen Satz, der aus vier Szenen besteht (chronologisch: Anbau des Kaffees in Brasilen, Jack sieht Jill am Pool, Jack fragt Jill, Jack und Jill trinken Kaffee) zu verstehen.

Wir sehen hier, dass Sprache mit der Fähigkeit verbunden ist, sich vergangene und zukünftige Handlungen vorzustellen und dass komplexe Syntax voraussetzt, dass wir uns selbst und anderen geistige Zustände zurechnen.

Wie nun ist die Fähigkeit, Syntax zu verstehen, in der Evolution entstanden.

 

(1) Es ist deshalb einfacher, wenn erst das Satzsubjekt gebärdet wird und dann das Verb: Wir (Suchalgorithmus: Was machen wir?): trinken. Wenn erst das Verb gebärdet wird, könnte man zunächst verstehen: Jack trinkt Kaffee und in einem zweiten Schritt wird Jack durch „Wir“ ersetzt. Hier zeigt sich eine weitere Eigenschaft der Sprache, nämlich, dass die Elemente solange reorganisiert werden, bis ein sinnvoller Satz entsteht.