Die Evolution des Geistes

Warum das menschliche Denken an das Erzählen von Geschichten angepasst ist

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Die Frage nach der Herkunft des menschlichen Geistes stellt sich seit Darwin in neuer Weise. In den letzten Jahrzehnten sahen wir zwei große Trends: die einen wollen den menschlichen Geist aus einer physikalischen Mechanik des Gehirns erklären und sehen in Bezug auf die Evolution des menschlichen Geistes keinen grundlegenden Unterschied zu der Evolution der kognitiven Fähigkeiten anderer Lebewesen, und die anderen erklären die Kluft zwischen Mensch und Tier mit der menschlichen Kultur und insbesondere mit der Fähigkeit des Menschen, Symbole, Mythen und Erzählungen zu entwickeln: Diese Narrative, so sagen sie, gäbe Menschen ihre Identität: wir leben in Geschichten. Auch sie sind der Meinung, dass wir uns hinsichtlich der in der Evolution entstandenen genetischen Ausstattung nicht notwendigerweise stark von anderen Tieren unterscheiden. Die Evolution des Geistes verbindet die beiden miteinander in Konflikt stehenden Positionen in vollkommen neuer Weise.

Wie das?

Das Problem der Entstehung des menschlichen Geistes kann man in einem Trilemma darstellen:

1. Der menschliche Geist ist einzigartig (kein Tier besitzt ihn).
2. Der menschliche Geist ist in der Evolution entstanden.
3. Die Evolution wirkt auf alle Organismen in gleicher Weise.

Jede dieser Thesen sieht auf den ersten Blick überzeugend aus:
Wir sind einzigartig und unterscheiden uns von allen anderen Lebewesen; gleichzeitig gehen wir davon aus, dass wir Menschen in der Evolution entstanden sind, so wie auch alle anderen Lebewesen in der Evolution entstanden sind; und auch die dritte These scheint überzeugend zu sein: Die Evolution ist ein universeller Prozess, in dem es zu zufälligen Mutationen und adaptiven Selektionen kommt. Dennoch ergeben alle drei Thesen zusammengenommen einen Widerspruch:

Wenn der menschliche Geist in der Evolution entstanden ist und die Evolution auf alle Organismen gleich wirkt, kann der menschliche Geist nicht einzigartig sein. Wenn er dagegen einzigartig ist und die Evolution auf alle Organismen gleich wirkt, ist er nicht in der Evolution entstanden. Und wenn der menschliche Geist einzigartig ist und in der Evolution entstanden ist, dann wirkt die Evolution nicht auf alle Organismen in gleicher Weise.

Um den Widerspruch aufzulösen, müssen wir also eine der drei Prämissen aufgeben.
Wenn wir die erste Prämisse, die Prämisse von der Einzigartigkeit des Menschen, aufgeben, erhalten wir eine bestimmte Perspektive auf den Menschen. Er erscheint dann in erster Linie als biologisches Wesen, das sich nicht allzu viel auf seine besondere Position einbilden sollte. Diese Perspektive einzunehmen, kann in einigen Fällen sinnvoll sein. Sie versagt aber in Bezug auf die Evolution des menschlichen Geistes. Wenn wir nämlich die These der Einzigartigkeit des Menschen aufgeben, müssen wir alles übersehen, was den Menschen zum Menschen macht und vor anderen Tieren auszeichnet.

Aus diesem Grund erscheint es naheliegend, die zweite These aufzugeben:
Wenn wir die zweite These aufgeben, leugnen wir, dass der menschliche Geist in der Evolution entstanden ist. Diese Position ist weit verbreitet. Die einen widersprechen der zweiten These aus religiösen Gründen, andere vertreten die Ansicht, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier vor allem auf der Entwicklung der menschlichen Kultur basiert: In der Evolution hat sich das große Gehirn des Homo sapiens entwickelt, aber dieses wird erst dadurch, dass es mit menschlicher Kultur gefüllt wird, zum eigentlich menschlichen Geist.

Doch auch hier haben wir ein Problem: Es mag ja sein, dass der Mensch erst in seiner individuellen Entwicklung zum eigentlichen Menschen wird und maßgeblich von einer bestimmten Kultur geprägt ist. Andererseits wachsen Katzen und Hunde mit Menschen auf, ohne Sprache zu lernen und ohne sich über ihre eigene Evolution Gedanken zu machen. Darin zeigt sich, dass die einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen einzigartige genetische Grundlagen haben. Selbst wenn wir die meisten ausschließlich menschlichen kognitiven Fähigkeiten erst unserem Leben erwerben, ist er doch mit Begabungen und Neigungen geboren, die es uns erlauben diese Fähigkeiten zu erwerben. Die Kultur selbst liegt nicht in den Genen, aber die Fähigkeit an ihr Teil zunehmen hat eine biologische in der Evolution entstandenen Grundlage.
Wir können also weder die erste noch die zweite These aufzugeben: Der menschliche Geist ist einzigartig und er ist in der Evolution entstanden. Deshalb scheint es notwendig, die dritte These aufzugeben, und genau dies ist der Ausgangspunkt von

Die Evolution des Geistes – warum das menschliche Denken an das Erzählen von Geschichten angepasst ist

Wir vertreten also die These, dass die Evolution des Menschen sich von den von anderen Tieren unterscheidet. Dies mag auf den ersten Blick provokativ wirken, es ergibt sich aber notwendigerweise daraus, dass wir sowohl der These zu stimmen, dass der Mensch über einzigartige kognitive Talente verfügt und dass diese Talente in der Evolution entstanden sind. Was aber macht die Evolution des Menschen einzigartig?

Eine Erklärung besteht darin zu sagen, dass sich in der menschlichen Evolution das Verhältnis von Biologie und Kultur zum Teil umgekehrt hat: Traditionellerweise dachte man, dass die später hinzukommende Kultur den Menschen zum Menschen macht, indem sie zu seinem biologischen Gehirn und seinem genetischen Makeup etwas Entscheidendes hinzufügt. Wir können – belegt durch neuere Untersuchungen – nachweisen, dass das, was an der genetischen Disposition des Menschen einzigartig ist, von kulturellen Prozessen geprägt wurde. Der Mensch ist also ein Kulturwesen – bis in die Struktur seines Gehirns und sein genetisches Erbe hinein. Das Denken in Geschichten ist nicht einfach nur eine kulturelle Konvention, die eines großen Gehirns bedarf, das für andere Zwecke entstanden ist. Die These besteht also darin, dass es im evolutionären Prozess zu einem Bruch kam, durch den einen neue evolutionäre Konstellation entstand. In ihr kommt es zu einer Koevolution von narrativer Kultur und Genen. Dies ist die zentrale These des Buches.

Welche Belege gibt es für diese These?

Zunächst müssen wir uns fragen, was mit einem Bruch oder einer Diskontinuität in der Evolution überhaupt gemeint sein könnte. Ist es nicht gerade ein unabdingbares Merkmal der Evolution, dass sie ein langsamer und gradueller Prozess ist?

Hier müssen wir unterscheiden zwischen der graduellen Entwicklung von Merkmalen und den Phasentransformationen im evolutionären Prozess selbst (Maynard Smith & Szathmáry, 1995). Beispiele für derartige Phasentransformationen sind die Bildung des Zellkerns, die Entstehung der Mitochondrien, die sexuelle Selektion und die Entstehung eusozialer Strukturen bei Ameisen und Bienen. Aus den meisten der Übergänge ergibt sich eine deutliche Beschleunigung des evolutionären Prozesses.

Erste Belege dafür, dass der Mensch in einem einzigartigen evolutionären Prozess entstanden ist, liefern aktuelle genetische Untersuchungen. Es konnte festgestellt werden, dass sich einige Gene, die sich im Laufe der Entwicklung der Wirbeltiere (also in den letzten 400 Millionen Jahren!) kaum verändert hatten, in der Entwicklung zum heutigen Menschen, in grundsätzlicher Weise umgestaltet haben (Burbano, et al., 2012). Der Evolutionsgenetiker Bruce Lahn (2004) erklärt hierzu: „So viel in so wenig evolutionärer Zeit – ein paar Millionen Jahre – zu erreichen, erfordert einen selektiven Prozess, der sich wahrscheinlich kategorisch von dem normalen Prozess, in dem ansonsten biologische Merkmale erworben werden, unterscheidet.“ Lahn folgerte daraus: „Unsere Studie bietet den ersten genetischen Beweis, dass der Menschen eine einzigartige Position im Baum des Lebens einnimmt.“ Die Besonderheit des Menschen liegt also in der Besonderheit seiner Evolution.

Ein Grund dafür, dass das Problem der Evolution der Sprache immer noch als ungelöst gilt, könnte damit zusammenhängen, dass die Entstehung der Sprache bisher isoliert und nicht im Kontext der anderen einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen betrachtet wurde (Bickerton & Szathmáry, 2011). Wenn wir akzeptieren, dass sich die Evolution des Menschen von der Evolution anderer Tiere grundsätzlich unterscheidet, müssen wir an das Problem der menschlichen Evolution in vollkommen neuer Weise herangehen.

Die bekannten bisherigen Versuche, die einzigartigen Fähigkeiten und Neigungen des Menschen zu erklären, scheinen in diesem Lichte methodisch unzureichend gewesen zu sein, weil sie sich darauf beschränkten, jeweils eine isolierte Fähigkeit des Menschen zu erklären, anstatt die Transformation im evolutionären Prozess zu erklären, aus der sich dann alle einzigartigen Fähigkeiten und Neigungen ergeben. Da sich diese Fähigkeiten und Neigungen nicht nacheinander und voneinander isoliert entwickelt haben können, darf die Evolution keiner dieser Kompetenzen isoliert betrachtet werden.

Dadurch ergibt sich eine vollkommen neue Situation in der Forschung: Wenn wir die These akzeptieren, dass der Mensch das Produkt eines Bruches in der Evolution ist (vergleichbar mit der Entstehung der sexuellen Reproduktion oder der Entwicklung von staatenbildenden Insekten) dann hat es keinen Sinn evolutionäre Szenarien für einzelne kognitiven Fähigkeiten des Menschen zu entwerfen. Das Muster dieser Erklärungen bestand darin, eine Funktion für eine besondere allein menschliche Begabung und Fähigkeit auszumachen und sich dann ein Szenario auszudenken, in dem eine solche Fähigkeit einen Vorteil darstellt. Zurecht werden diese Arten von Erklärungen als funktionalistische Phantasien belächelt.

Wenn wir dagegen akzeptieren, dass der Mensch ein Produkt einer einzigartigen Form der Evolution ist, einer Form in der möglicherweise Kultur und Narrative eine Rolle spielten, dann verändert sich der Anspruch an eine Erklärung der Evolution des menschlichen Geistes grundlegend. Zuerst müssen wird erklären wie es zu einem Bruch in der Evolution kam und warum dieser sich aus der Dynamik der vorherigen Entwicklung ergab und dann müssen wir erklären wie das neue evolutionäre System notwendiger Weise alle einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen produziert. Im Idealfall sollte die gesamte Entwicklung simulierbar sein. In jede ausschließlich menschliche Fähigkeit müsste sich das außergewöhnliche evolutionäre Scenario, in dem der Mensch entstanden ist, eingeschrieben haben.

Fassen wir die Ansprüche an eine Theorie der Evolution des menschlichen Geistes in einer offenen Liste zusammen. Diskutieren sollten wir folgende Vorschläge:
1. Das Problem der Evolution des menschlichen Geistes anzugehen, bedeutet den evolutionären Prozess zu beschreiben, in dem er entstanden ist. Wenn dieser evolutionäre Prozess das Ergebnis eines Bruches im evolutionären Prozess ist, liegt die Erklärung der Evolution des menschlichen Geistes in der Erklärung wie es zu dem Buch im evolutionären Prozess kommt.
2. Die Theorie sollte im Rahmen der allgemein anerkannten Standardtheorie der Evolution entwickelt werden.
3. Die Theorie sollte mit möglichst wenig neu eingeführten Prämissen beginnen. Die eingeführten Prämissen sollten so wenig Bedingungen wie möglich haben und so wahrscheinlich wie möglich sein.
4. Die Theorie der Veränderung der Evolution muss sich vollständig aus den eingeführten Prämissen ergeben.
5. Die neue evolutionäre Struktur sollte, wenn möglich, die Entstehung aller einzigartigen Fähigkeiten des Menschen erklären.
6. Im Idealfall sollte der Evolutionsprozess im Rahmen avancierter Spieltheorie simulierbar sein.

Der Leser des Buches kann sich in zwei Diskussion beteiligen: Entweder kann er an der methodologischen Debatte teilnehmen, in der es darum geht, herauszufinden was die Kriterien einer guten Theorie der menschlichen Evolution sind oder aber er kann diese Kriterien akzeptieren und Gegenvorschläge zu unserer Theorie machen.

Unsere Theorie wird nur eine einzige Prämisse einführen und zeigen, wie sich daraus eine notwendige Transformation im evolutionären Prozess ergibt. Hierbei hat unsere Theorie den Anspruch, mit dem sich daraus ergebenen Szenario alle einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen zu erklären. Die Voraussage ist, dass sich selbst diejenigen kognitiven Fähigkeiten, an die wir während der Entwicklung der Theorie nicht gedacht haben, sich mit der Theorie erklären lassen werden. Auf diese Weise soll ein Forschungsprojekt eingeleitet werden, dessen Ziel es ist, eine solide Theorie der menschlichen Evolution zu einwickeln.

Noch eine Bemerkung:
Wir dürfen hier zweierlei nicht verwechseln: die genetische Grundlage der kognitiven Fähigkeiten des Menschen als Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis und die konkreten Inhalte des menschlichen Geistes, die wir als Wissen oder Überzeugungen bezeichnen. Es gibt einen ungemeinen Fortschritt des Wissens: wir wissen, dass die Erde keine Scheibe ist und dass alle Lebewesen in der Evolution entstanden sind. Wir haben religiöse Vorurteile überwunden und Methoden, Theorien und Instrumente entwickelt, die kritische Wissenschaft möglich machen. Doch all dieser Fortschritt des Wissens geht nicht mit einer grundsätzlichen Umformung unseres Gehirns einher, vielmehr besitzen wir immer noch die Gehirnarchitektur, die im Leben in kleinen Gruppen von Jägern-und-Sammlern in den Savannen Ostafrikas entstanden ist. Die kognitiven Fähigkeiten des Menschen sind universell. Wie nun sind diese kognitiven Fähigkeiten entstanden?
Zunächst müssen wir eine besondere Eigenschaft der Evolution bedenken: dass sie immer mit maximaler Sparsamkeit vor sich geht. Etwas kann sich nicht in der Evolution entwickeln, wenn es nicht gebraucht wird. Daraus können wir schließen, dass die Ansprüche an die kognitiven Fähigkeiten des Menschen in den Stammesgesellschaften mindestens so groß waren, wie sie heute in der modernen Gesellschaft sind, denn wenn sie geringer gewesen wären, hätten sich unsere kognitiven Fähigkeiten nicht entwickeln können.

Literaturverzeichnis
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